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Mehr als das, was unser Auge sieht.
Die abstrakte Fotografie von Jens Waldenmaier
Einige Jahrzehnte, bis ins Jahr 1916, brauchte die Fotografie, um zu sich selbst zu finden. In diesem Jahr publizierte der Amerikaner Alvin Langdon Coburn nämlich seinen Aufsatz „Die Zukunft der bildmäßigen Fotografie“, der zum ersten Mal Fotos als das betrachtet, was sie auch sind: nicht Symbol oder Bedeutungsträger, sondern schlichtes Objekt. Dieser fotohistorische Moment ist für Gottfried Jäger, dem wichtigsten Theoretiker abstrakter Fotografie in Deutschland, der eigentliche Beginn jeder „Konkreten“ oder „Abstrakten“ Fotografie.
Abstrakte Fotografie hat inzwischen eine lange Geschichte. Die Fotogramme von Christian Schad oder László Moholy-Nagy – Zeichnungen des Lichts auf dem Fotopapier, Fotografien, die ohne Kamera entstanden sind – gehören zu den wichtigen frühen Beispielen abstrakter Fotokunst. Vor allem der Bauhauslehrer László Moholy-Nagy formulierte seine Vision einer abstrakten Fotografie schon im frühen 20. Jahrhundert: „malen ohne pigment nur mit reinem licht im grenzbereich zwischen malerei und fotografie“. Viele weitere Fotokünstler haben abstrakt gearbeitet: Man Ray, Hugo Erfurth, Alexander Rodtschenko, Lotte Jacobi, Otto Steinert, Raoul Hausmann, Chargesheimer, Floris M. Neusüss, Jean-Marc Bustamante, Hiroshi Sugimoto – oder Timm Rautert, der unbelichtete Fotopapierstreifen dem Tageslicht aussetzte.
Auch die zeitgenössische Fotokunst kennt viele faszinierende Beispiele abstrakter Fotografie. Doch nur wenige abstrakte Fotobilder wirken so geheimnisvoll wie jene von Jens Waldenmaier. Er hinterfragt das Bild der Wirklichkeit, in dem er es abstrahiert. Wie hat schon Immanuel Kant in „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ geschrieben: „Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahieren können.“
Waldenmaier hingegen kann das: abstrahieren. Denn was oftmals als billiger fotografischer Trick wirkt: die Annäherung an die Malerei, an das Aquarell, das Unscharfe, Verwischte, Ausgelaufene, das in der Fotogeschichte fast schon zu oft Wiederholte, das entwickelt in seinem Werk eine faszinierende Daseinsberechtigung. Es ist ein schmaler Grad zwischen Abstraktion und Konkretisierung – und es gelingt vielen nicht, den richtigen Punkt „dazwischen“ zu treffen.
Das ist bei Waldenmaier anders. Seine Bilder von Horizonten, es könnten winterliche. nordische Landschaften sein (entstanden sind seine Bilder aber in den Weiten Australiens und Neuseelands – aber auch in Metropolen wie Shanghai und Hongkong), treffen genau den Punkt zwischen Schärfe und Unschärfe – genau den Punkt, der sie auf eigentümliche, geistvolle Art interessant macht. Es gibt noch andere Varianten. Rhythmische Bilder, wie Blumen muten die Objekte an, zeigen sich lyrisch, geheimnisvoll. Wieder andere Arbeiten offenbaren einen nächtlichen Blick auf urbane Architektur, manche Lichtpunkte wirken deutlich verstärkt, ziehen den Betrachter in Bann.
In der Unterschiedlichkeit der Ergebnisse liegt die Qualität seiner Bilder. Weitere Arbeiten muten an wie Blicke in die Tiefen eines Ozeans, andere Horizonte werden durch vertikale Streifen gegliedert. Waldenmaier will sich nicht festlegen lassen, will keine durchgängige Lesbarkeit, will Offenheit, Transparenz, will Fotografien schaffen, die kaum auf einer Linie liegen müssen – sondern immer unterschiedlich ausfallen dürfen. Musikalisch muten einige der Werke an, von einem Rhythmus getragen, der Linien, Punkte und Wellen zum Schwingen bringt.
Wie groß ist der Zufall, der in diesen seit 2008 entstehenden Bildern, diesen „Zwischenwelten“ steckt? Es geht auch darum, das „Nicht-Vorhersehbare aus diesem Betrachtungsgemenge hervorzubringen“, sagt Waldenmaier. „Diese Veränderungen sind die Entdeckung, die Offenbarung eines Ortes mit der ich nicht gerechnet habe.“
Jens Waldenmaier arbeitet analog, mit langen Belichtungszeiten bis zu 30 Minuten – macht Zeit erfahrbar, bildet das Vergehen von Zeit in seiner Fotografie ab. Er fotografiert aus der Hand mit Mittel- und Großformat. Mehrere unterschiedliche Belichtungen werden übereinander gelegt. Warum analog? Er gibt die Antwort selbst. „Weil es hier um die Abbildung real existierender Dinge geht. Das sollte auch auf einem real existierenden Medium wie Film geschehen, nicht in der flüchtigen, nur mit einer zweifelhaften Realität ausgestatteten digitalen Welt“.
„Ein Zeitraum von 3 Sekunden wird als Gegenwart definiert – eine Zeitdauer, die unser Gehirn als Bild der Realität verschmilzt“, erklärt Jens Waldenmaier. „Die Kamera kann jedoch eine längere Zeitdauer speichern, indem das Gemenge der Eindrücke übereinander auf die Filmemulsion belichtet wird und somit Zeitspuren hinterlässt, die zum Schluss neue Muster und Rhythmen offenbaren.“
Es ist mehr um uns, als das, was unser Auge sieht. Das ist die tiefe, beunruhigende Wahrheit dieser Bilder.
Marc Peschke www.marcpeschke.de
Photographic Images by Jens Waldenmaier
There is something whimsical, mystical and esoteric embedded in the work of Jens Waldenmaier. His images show us a place that is other worldly, multiple, transitory. They are encounters that don't exist as a single moment, instead portraying many moments in time and place, sound and space. Looking at his work you get the feeling that he has immersed himself into another space and time that is not clearly definable, nor linear or static. He has captured another dimension, a reality that surely exists, because here we have it documented, in hard copy, on the medium of truth, film. However, we cannot use rational methods of interpretation to decode these images. We must use our intuition, our connection to the collective conscious, our dream memory - all the things that are derived from our understanding of un-reality. This is because Jens has captured a feeling, a combination of moments, the duration of time, within a static image. The images are a recording of an experience, a multi-sensed illustration of moments of existence, realized through attention to and the absorption of the senses. They are not necessarily personal images, but they are individual, as it is his bodily movements in reaction to ambient sound that creates them. A dance and a trance.
Various exposure techniques have been used to create these images through analogue photography, which is also utilized for conceptual reasons. Analogue is a recording of the actual experience, the actual moments, and a connection to the present. The medium causes us to work in a completely different way. Viewing does not interrupt the flow; the element of chance is greatly increased. The process is organic, less contrived, and more fluid.
The sense of movement in these works is undeniable. It is not necessarily a linear motion, we can see cycles, circles, a sweeping in and out, tidal movements, vibrations, windswept surfaces, and a hum of action. They are small gestures, faint traces of life greater than ours, spanning a different place and time. The concept and duration of this time is different to how we experience ours in life.
In Jens’ work we are in more than one place at any time, simultaneously calm and rushed, linear and circular. Constantly changing, continually cycling, an ebb and flow.
These images can exist on macro and micro levels. They could be vast oceans, velvety horizons or buzzing cityscapes. Similarly they could be a molecular makeup, a cellular structure. They resemble the mark makings of many mediums - fine pencil lines, messy texta, close up film grain, stretched tape, bleeding ink, corrupt digital files. It is interesting that they contain so much for the mind to consider, to contemplate. Is this because visually we are given the space to do so? Is it cause and effect? Perhaps if we paused, listened, breathed deeply and flowed, dissolving into the free fall, we too could share in this concept of Time Duration.
Linsey Gosper MFA, Melbourne-Australia